Begriffe wie Seele und Selbst verwenden wir nicht nur in Literatur und Kunst, sondern auch in unserem Alltag, ohne dabei in Gedanken zu versinken und sich existenzielle Fragen zu stellen. Zwar erscheint die Identitätskrise sehr häufig als Motiv in der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts, die verschiedenen Schichten der Ich-Gefühle begeistern aber nicht nur Schriftsteller und Künstler, sondern auch Psychologen und Philosophen in jedem Zeitalter. Die ganze Gesellschaft sucht immer noch die Antworten auf Fragen wie „Bin ich heute genau dieselbe Person wie gestern?“, „Habe ich überhaupt eine Seele und wo genau befindet sie sich?“ oder „Bin ich der Herr meiner eigenen Entscheidungen?“. Die Mehrheit der Menschen ist sich darüber einig, dass sich unsere Weltwahrnehmung im Laufe der Zeit kontinuierlich verändert.
Laut Thomas Metzinger, Professor für Philosophie an der Universität in Mainz, ist das Selbst kein Ding, sondern ein Vorgang und es wird in unserem Gehirn konstruiert. Wir sind heute nicht dieselbe Menschen wie wir vor einigen Jahren waren. Deswegen ist er der Meinung, dass das Ich nur eine Illusion unseres Gehirns ist. Für ihn existieren weder Seelen noch Ichs, sondern nur das Gehirn selbst. In seinem Buch „Der Ego-Tunnel“ (2009) beschreibt er eine neue Philosophie des Selbst. Er spricht über die Evolution der Selbsttäuschung, mit deren Hilfe wir leichter Niederlagen vergessen oder Selbstmotivation und Selbstvertrauen erhöhen können. In einer Reihen von Experimenten zeigt er, dass die innere Vorstellung von unseren Wahrnehmungen von dem gewohnten Modell stark abweichen kann. Sehr interessant war für mich die so genannte „Gummihand-Illusion“, welche er mehrmals beschrieben hat. Hier wird eine Hand-Attrappe vor einer Versuchsperson auf den Tisch gelegt. Während des Experiments bleibt aber seine eigene Hand abgedeckt. Streichelt man gleichzeitig die abgedeckte echte und die künstliche Hand mit einem Stäbchen, fängt der Versuchsperson bald an, die Gummihand als seine eigene Hand wahrzunehmen. Neurowissenschaftler erklären dieses Phänomen mit einer „Verschmelzung taktiler und visueller rezeptiver Felder“, was für die Entwicklung eines bewussten Ichgefühls führt. In einem Interview mit dem Biophysiker Stefan Klein für das Zeitmagazin erzählt Metzinger über seine Klarträume und außerkörperlichen Erfahrungen. Bei den so genannten Klarträumen, die auch als luzide Träume bekannt sind, handelt es sich um einen Zustand, bei dem man in der Lage ist, seine eigenen Träume ganz bewusst wahrzunehmen, beliebig zu steuern und sogar zu verändern. Die außerkörperlichen Erfahrungen hingegen bezeichnen den Zustand, in dem der Geist den physischen Körper verlässt. Metzinger berichtet über eine Nacht, in der er seinem Körper verlassen habe, im Schlafzimmer herumgewandert und durch das Fenster gesprungen sei, ohne hinunterzufallen. Danach habe er sich dazu entschieden, zum Haus eines Freundes zu fliegen, welches 85 Kilometer weit weg entfernt ist. Dann habe er aber plötzlich sein Bewusstsein verloren. Häufig fällt man während dieser Aktion in Schlafparalyse. Mit diesem Begriff nennt man das Gefühl wach zu sein und sich nicht bewegen zu können. Die Schlafparalyse ist aber keine Krankheit und ist sogar für den gesunden Schlaf von großer Bedeutung. Diese außerkörperlichen Erfahrungen haben ihm aber geholfen, neue Hypothesen über die Wirklichkeit zu entwickeln. Mehr über seine Hypothesen kann man natürlich in seinem Buch lesen. Das Buch versucht ein paar Antworten zu geben, lässt aber bestimmt viel mehr Fragen offen.